Debatten rund um eine potenzielle Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters haben in der Schweiz in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen. Was ist die menschen- und kinderrechtliche Sichtweise auf das Stimm- und Wahlrecht? Und wie sehen die Argumente aus?
Das Stimm- und Wahlrechtsalter in der Welt
In etwa 90 Prozent der Länder und Territorien weltweit liegt das Stimm- und Wahlrechtsalter bei 18 Jahren oder höher. Einige Staaten haben dieses Alter gesenkt und ermöglichen damit 16- oder 17-Jährigen, an Wahlen teilzunehmen. Teils können diese an allen Wahlen teilnehmen, teils nur an lokalen Wahlen oder z.B. Europawahlen. In einigen Ländern gibt es seit den frühen 2000er-Jahren Bemühungen, das Stimm- und Wahlrechtsalter zu senken. UNICEF setzt sich dabei weltweit in verschiedenen Ländern für eine Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters ein.
- In diesen Ländern und Territorien können Personen ab 16 oder 17 Jahren an folgenden Wahlen teilnehmen:
- An allen Wahlen: Argentinien, Brasilien, Ecuador, Guernsey, Griechenland, Indonesien, Isle of Man, Jersey, Kuba, Nicaragua, Nordkorea, Österreich und Timor-Leste.
- An lokalen Wahlen: Deutschland, Estland, Israel, Puerto Rico, Schottland und Wales.
- An Europawahlen: Belgien, Deutschland, Griechenland, Österreich und Malta.
- In den USA können 17-Jährige an Vorwahlen teilnehmen, wenn sie vor der Parlaments- bzw. Präsidentschaftswahl 18 werden.
- In einigen Ländern – z.B. in Deutschland und in der Schweiz – können Jugendliche in einzelnen Bundesländern, Kantonen oder Gemeinden wählen.
- In einigen Ländern und Territorien gibt es seit den frühen 2000er-Jahren Bemühungen, das Stimm- und Wahlrechtsalter zu senken: z.B. in Chile, Deutschland, Frankreich, der Schweiz und Spanien.
- UNICEF hat sich weltweit in verschiedenen Ländern für eine Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters eingesetzt und tut dies weiterhin:
- So z.B. in Argentinien, Chile, Kanada, Mexiko, Neuseeland/Aotearoa, der Schweiz und Spanien.
Eine menschenrechtliche Perspektive auf das Stimm- und Wahlrechtsalter
Internationale Menschenrechtsverträge, wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und insbesondere der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, sichern das Wahlrecht aller Menschen. Eine Einschränkung des Wahlrechts mit einem Mindestalter ist dabei völkerrechtlich gesehen zulässig und angemessen. Dabei ist jedoch nicht vorgegeben, welches Alter angemessen ist oder dass die gesetzliche Volljährigkeit in Zusammenhang mit dem Wahlrechtsalter steht.
In der UN-Konvention über die Rechte des Kindes (auch: Kinderrechtskonvention, KRK) wird das Stimm- und Wahlrecht nicht explizit erwähnt. Die Kinderrechtskonvention sichert jedoch in Art. 12 jedem Kind – also allen Personen unter 18 Jahren – das Recht auf Partizipation. Konkret: Jedes Kind hat das Recht, seine Meinung in allen Angelegenheiten, welche das Kind betreffen, zu äussern. Diese Mitbestimmung soll entsprechend des Alters und der Entwicklung des Kindes stattfinden. Partizipation ist ausserdem eines der vier Grundprinzipien, die für die Umsetzung der gesamten Konvention entscheidend sind. Der UN-Kinderrechtsausschuss, das Kontrollorgan der Vereinten Nationen für die Umsetzung der Kinderrechte, hat sich mehrfach positiv gegenüber einer Ausweitung der Wahlrechte auf Jugendliche ausgesprochen. So hat er beispielsweise Nicaragua und Österreich gelobt, nachdem diese das Wahlrechtsalter gesenkt hatten. Schliesslich unterstreicht der Kinderrechtsausschuss die Bedeutung von politischen Mitbestimmungsmöglichkeiten für Jugendliche und er betont, dass Staaten diese ausbauen sollten.
Eine Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters auf 16 oder 17 ist somit durchaus mit menschenrechtlichen und kinderrechtlichen Bestimmungen vereinbar. Zumindest älteren Kindern – also Jugendlichen – das Wahlrecht zu geben, würde den Einsatz von Staaten zur Umsetzung der Kinderrechtskonvention signalisieren, da diesen Kindern in der politischen Arena mehr Gehör geschenkt würde.
- Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sichert das Wahlrecht in Artikel 21: Der Wille des Volkes muss durch «regelmässige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen» zum Ausdruck kommen.
- Auch der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte sichert in Artikel 25 dasselbe Wahlrecht. Der Menschenrechtsausschuss, das Überwachungsorgan der Vereinten Nationen für den Pakt, hat die Thematik noch weiter vertieft. Grundsätzlich gelten alle Menschenrechte für alle Menschen; sie sind universell. In seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 18 (Abs. 13) präzisiert der Menschenrechtsausschuss, dass Einschränkungen einzelner Menschenrechte eine «angemessene und objektive» Grundlage haben müssen, damit diese nicht diskriminierend sind. Auf das Wahlrecht bezogen erläutert der Ausschuss in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 25 (Abs. 10), dass eine Einschränkung des Wahlrechts mit einer minimalen Altersgrenze angemessen ist.
- Die UN-Konvention über die Rechte des Kindes garantiert in Artikel 12 das Recht jedes Kindes darauf, dass es seine Meinung «in allen das Kind berührenden Angelegenheiten» frei äussern kann und dass diese Meinung entsprechend dem Alter und der Reife des Kindes berücksichtigt werden muss. Der UN-Kinderrechtsausschuss, welcher die Umsetzung der Kinderrechtskonvention überwacht, hat in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 20 (Abs. 24) zur Implementierung der Kinderrechtskonvention für Jugendliche präzisiert, dass unter Artikel 12 der Konvention die politische Mitbestimmung Jugendlicher eine wichtige Rolle spielt und dass Staaten politische Mitbestimmungsmöglichkeiten von Jugendlichen ausbauen sollten.
Organe der Vereinten Nationen, die für die Überwachung der verschiedenen Völkerrechtsverträge zuständig sind, legen regelmässig in sogenannten «Allgemeinen Bemerkungen» (engl.: General Comments) die Interpretation und Anwendung der jeweiligen Verträge aus. So präzisiert beispielsweise der Kinderrechtsausschuss, wie ein einzelner Artikel der Kinderrechtskonvention zu verstehen und anzuwenden ist oder auch wie z.B. die Konvention in der frühen Kindheit, für Jugendliche oder im digitalen Raum anzuwenden ist.
Eine Einordnung der Gegenargumente
Ein häufiges Argument gegen eine Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters ist, dass Jugendliche zu wenig politisch informiert, engagiert und interessiert seien, um an Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen. Dazu ist anzumerken, dass Jugendliche in Interesse und selbsteingeschätzter politischer Wirksamkeit nicht bedeutend von Erwachsenen abweichen. Junge Menschen beteiligen sich zwar im Durchschnitt weniger oft formal, d.h. bei Wahlen und Abstimmungen. Viele beteiligen sich jedoch in anderer Form, z.B. bei Protesten. Wichtig ist jedoch: Das Stimm- und Wahlrecht auf Jugendliche zu erweitern heisst nicht, dass diese dann alle wählen werden oder wählen müssen. Es bedeutet, dass ihr Recht auf freiwillige politische Beteiligung umgesetzt wird. Ausserdem ist es die Pflicht von Vertragsstaaten der Kinderrechtskonvention, Jugendliche dazu zu ermächtigen, dass sie sich informiert und wirksam politisch und gesellschaftlich einbringen können. Dementsprechend müssen altersgerechte Informationen vorliegen.
Weiter fehle es Jugendlichen an Entscheidungskapazität. Sie seien kognitiv noch nicht ausreichend dazu in der Lage, an Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen. Aktuelle wissenschaftlicheErkenntnisse zeigen allerdings, dass Jugendliche durchaus die Kapazität haben, eigenständige Entscheidungen zu treffen. Deshalb spricht die Entscheidungskapazität von Jugendlichen eher für und nicht gegen eine Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters.
Ein weiteres Gegenargument ist, dass eine Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters deswegen unnötig sei, weil Jugendliche zukünftig wahlberechtigt sind und ihre Interessen bereits durch z.B. ihre Eltern oder andere Erwachsene vertreten seien. Dieses Argument verkennt jedoch, dass Kinder gleichberechtigte Inhaber von Rechten sind. Ausserdem widerspricht es dem Prinzip der Generationengerechtigkeit. Unter 18-Jährige sind in den meisten Ländern von Wahlen ausgeschlossen, während Erwachsene ohne obere Altersgrenze wählen können. Daraus folgt eine politische Übervertretung der älteren Bevölkerung und eine massive Untervertretung von jungen Menschen, insbesondere von Kindern und Jugendlichen, welche am längsten mit den aktuell getroffenen politischen Entscheiden leben werden.
Schliesslich wird Jugendlichen zugeschrieben, dass sie zu extreme politische Positionen hätten und sie somit Unruhe ins demokratische System bringen würden. Solche Argumente, welche die Debatte um Stimm- und Wahlrecht für neue Gruppen als parteipolitisch oder als Frage von politischer Positionierung darstellen, sind anti-demokratisch: Sie behandeln das Stimm- und Wahlrecht als politisches Kalkül und schreiben ihm seinen inhärent menschenrechtlichen Wert ab. Zudem ist es vielerorts schwierig abzuschätzen, welche politischen Positionen Jugendliche vertreten, da diese nicht häufig befragt werden. In der Schweiz zeigen wissenschaftliche Untersuchungen, dass sich Jugendliche im Alter von 16 und 17 Jahren in etwa gleich auf einer Links-Rechts-Skala positionieren wie junge Erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren.
Eine Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters würde auch Risiken bringen, die adressiert werden müssen. Eine Herabsetzung könnte zu einer Debatte über die Senkung einer Vielzahl an Kindesschutzmassnahmen, die bis 18 gültig sind, führen. Kinder und Jugendliche unter 18 sind in verschiedenen Bereichen rechtlich geschützt und werden zurecht anders behandelt als Erwachsene: z.B. im Strafrecht oder beim Jugendschutz.
Das Stimm- und Wahlrecht für Kinder bedeutet nicht die Leugnung möglicher Vulnerabilitäten von Kindern in anderen Bereichen und darf auch nicht dazu führen, dass eine Senkung dieser Kindesschutzmassnahmen legitimiert wird. Im Zentrum muss stets das übergeordnete Interesse des Kindes bleiben (Kinderrechtskonvention, Art. 3).
Unser Engagement für das Stimmrechtsalter 16 in der Schweiz
In der Schweiz engagiert sich UNICEF Schweiz und Liechtenstein als Teil der Allianz Stimmrechtsalter 16 für die Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters. Weil zu Wahlen noch regelmässige Sachabstimmungen dazukommen und somit die direkte Mitbestimmung der Stimmbevölkerung einen besonderen Stellenwert hat, könnte ein tieferes Stimm- und Wahlrechtsalter in der Schweiz die politische Partizipation von jungen Menschen bedeutend verbessern. Und insbesondere aufgrund der im internationalen Vergleich sehr tiefen Wahlbeteiligung könnte ein tieferes Stimm- und Wahlrechtsalter dazu führen, dass demokratische Beteiligung früher erlernt und zur Gewohnheit wird. Wir haben uns bei der Parlamentarischen Initiative 19.415 von Sibel Arslan eingebracht und diese unterstützt. Diese wurde Ende Februar 2024 bedauerlicherweise im Nationalrat abgeschrieben. Gemeinsam mit der Allianz Stimmrechtsalter 16 und den jungen Menschen, die sich für ihre Beteiligungsrechte einsetzen, werden wir hierzulande weiterhin für eine Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters einstehen.